Jñana-Yoga (3)
Jñana-Yoga ist der Yoga des Wissens. Während manche Menschen eher auf ihren Körper und ihre Sinne fokussiert sind (und folglich erst einmal mit körperlichen Methoden der spirituellen Entwicklung arbeiten), arbeiten andere Menschen bevorzugt mit ihrem „Denkmuskel“. Wenn sie zugleich spirituelle Neigungen haben, versuchen sie, durch Nachdenken, Analysieren, Schlussfolgern, Innenschau und Kontemplieren zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und wer sie selbst eigentlich sind. Sie versuchen zu verstehen, was spirituell ist und was nicht. Sie denken, das „Spirituelle“ oder „Absolute“ muss das sein, was übrigbleibt, wenn man alles Materielle weglässt.
Also analysieren sie zunächst alles Materielle (grobe Materie in Form von Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum, Arbeitssinne, wahrnehmende Sinne, Sinnesobjekte usw., sowie feine Materie in Form von Geist, Intelligenz und falsches Ego), und sie sagen dann: All das sind wir nicht.
Sie verstehen: Alles Materielle ist im Wandel, also schlussfolgern sie: Das Absolute muss unwandelbar sein. Alles Materielle ist letztlich tote Materie ohne Bewusstsein, also ist das Absolute pures Leben und reines Bewusstsein. Alles Materielle hat verschiedenste Formen, also muss das Absolute wohl formlos und ohne Vielfalt sein. Alles Materielle ist durch Dualität geprägt, also ist das Absolute nichtdual. Und so weiter.
Eine berühmte kurze Aussage des Jñana-Yoga lautet: „Aham Brahmasmi“. Dies bedeutet im Wesentlichen: „Ich verstehe, dass ich von reinem göttlichen Wesen bin. Mein Körper wird geboren und stirbt irgendwann, aber ich selbst bin ein ewiger Funke göttlicher Bewusstseinsenergie, ungeboren und unsterblich.“
Eine weitere Erkenntnis auf dem Weg des Jñana-Yoga besteht darin, dass man die reine Lebensenergie, Gott oder die spirituelle Seele zwar nicht direkt sehen kann, aber aufgrund der Weisheit der Yoga-Schriften und durch geläuterte Intelligenz verstehen kann, dass das Materielle durch das Spirituelle gesteuert, geformt und bewegt wird. Ein Organismus ohne die Gegenwart des Elements Leben ist einfach ein toter Körper, der in seine materiellen Bestandteile zerfällt.
Eine Schlussfolgerung, die sich dadurch ebenfalls ziehen lässt, ist, dass das Materielle ohne die Gegenwart spiritueller Kraft (Bewusstsein, Leben) genau genommen formlos ist und dass das Spirituelle das formende und gestaltgebende Prinzip hinter allem ist und somit letztlich doch nicht formlos sein kann. Im Spirituellen muss es somit spirituelle Form bzw. spirituelle Formen geben, die sich fundamental von den Formen der materiellen Welt unterscheiden.
In den vedischen Yoga-Schriften gibt es auch die Aussage: „Janmady Asya Yatha“, zu Deutsch: „Das Absolute ist das, von dem alles Materielle und Spirituelle ausgeht.“ Dies bedeutet somit, dass das Absolute nicht weniger sein kann als was von ihm ausgeht. Da so viele Formen, Lebewesen, Vielfalt, Lebendigkeit, Bewusstsein usw. vom Absoluten ausgehen, muss das Absolute selbst *auch* gestalthaft, voller Vielfalt, Lebendigkeit und Bewusstsein sein. Der Ursprung von etwas enthält in sich selbst auch das, was von ihm ausgeht und kann somit nicht weniger sein als das, was von ihm ausgeht.
Auch können wir die hochkomplexe Struktur des Materiellen für sich selbst genommen und des Materiellen in Gegenwart des Elements Leben betrachten und feststellen, dass das materielle Universum im Kleinen wie im Großen extrem „ausgeklügelte“ und intelligente Gesetzmäßigkeiten aufweist. Intelligenz weist immer auf ein lebendiges Wesen hin, das sich der Intelligenz bedient, und Gesetzmäßigkeiten kommen von einem intelligenten Wesen, das diese Gesetzmäßigkeiten vorgibt. Da so viele Gesetzmäßigkeiten offensichtlich nicht von uns Lebewesen selbst vorgegeben werden, sondern unabhängig von uns bestehen (nicht selten zu unserem Leidwesen), muss es eine höchste Intelligenz und ein höchstes Wesen geben. Es muss ein höchst intelligentes Wesen geben.
Zu dieser Schlussfolgerung sind auch viele moderne Naturwissenschaftler gekommen. Und dies ist im Prinzip auch die höchste Erkenntnis, die man auf dem Weg des Jñana-Yoga erreichen kann: Es gibt zwei fundamental voneinander unterschiedliche Elemente oder Energien: Materie und Leben. Beide haben einen gemeinsamen Ursprung. Materie in Anwesenheit des Elements Leben nimmt viele Formen an und „scheint“ lebendig zu sein. Materie ohne das Element Leben zeigt sein wahres Wesen als tote Materie. Ein Organismus ohne Anwesenheit der lebendigen Seele ist einfach nur eine Leiche, die auf die eine oder andere Weise beseitigt wird. Materie für sich selbst genommen ist wertlos. Was wirklich wertvoll ist, ist das lebendige spirituelle Wesen. In Gegenwart des Elements Leben besitzt auch das Materielle einen Wert. In der Bhagavad Gita (2:16) heißt es dazu: „Die Weisen, die die Wahrheit sehen, haben erkannt, dass das Inexistente ohne Dauer und das Existente ohne Ende ist. Zu diesem Schluss sind sie gekommen, nachdem sie das Wesen von beidem studiert haben.“ Und eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass es ein höchstes spirituelles Wesen gibt, von dem alles ausgeht und das allem Wert verleiht. Und dass alle Lebewesen als Lebens- oder Bewusstseinsteilchen untrennbar zu diesem Höchsten Wesen gehören. Somit sollten wir ein Leben führen, in dem diese Tatsache und Erkenntnis voll zum Ausdruck kommen.
Wer oder was dieses Absolute genau ist, ja, was diese spirituelle Seele genau ist, lässt sich jedoch durch Analysieren, Interpretieren, Nachdenken und Schlussfolgern allein nicht herausfinden. Unser materieller Geist hat letztlich keinen Zugang zum Spirituellen, er ist dafür ein zu stumpfes Werkzeug. Auch besteht die Gefahr, dass wir durch unser Denken zu falschen Schlussfolgerungen kommen oder uns die Dinge so zurechtlegen, wie wir sie gerne hätten.
Ein authentischer Jñana-Yogi vertraut deswegen nicht allein auf seine Denkfähigkeit, sondern auf die Weisheitsschriften der Welt, in denen spirituelle Wahrheiten offenbart werden. Doch auch hier besteht das Risiko, Aussagen dieser fundierten Weisheitsschriften falsch zu deuten oder falsch zu verstehen. Deswegen kann der Weg des Jñana-Yoga zwar sehr hilfreich sein, sich dem Absoluten oder Spirituellen zu nähern, aber irgendwann kommt ein Punkt, an dem es auf diesem Weg nicht weitergeht.
Der Jñana-Yogi kommt im Idealfall zu der Erkenntnis: „Es gibt Gott, ein Höchstes Wesen, und ich bin ein untrennbarer Teil davon.“ Aber um herauszufinden, wer oder was Gott und was die spirituelle Dimension und die spirituelle Seele genau ist, muss er aufgeben, auf die eigene Geisteskraft zu bauen. Er muss auf dieser Ebene kapitulieren und darum beten, dass sich ihm das Absolute, Gott, offenbart – wie auch immer das konkret geschehen mag.
Die Tatsache, dass die Möglichkeiten, sich dem Absoluten durch Nachdenken zu nähern oder es zu erkennen, begrenzt sind, drückt sich auch in paradoxen Aussagen über das Absolute aus, die als absolut wahr gelten, jedoch auf der Ebene des Geistes nicht aufzulösen sind, zum Beispiel: „Das Absolute ist unbeweglich an Seinem ewigen Ort und bewegt sich doch schneller als mit der Geschwindigkeit des Geistes und kann alle anderen überholen. Das Absolute bewegt sich nicht fort und bewegt sich doch fort. Das Absolute ist ganz weit weg und doch ganz nah. Das Absolute ist *in* allem und doch *außerhalb* von allem.“ (So steht es beispielsweise in der essenziellen Yoga- und Weisheitsschrift Schri Ischopanischad.)
Aus diesem Grund versteht der Jñana-Yogi, dass es nicht ausreicht, Weisheitsschriften zu studieren und die Welt und alles in ihr bis ins Kleinste zu analysieren. Er will im Inneren spirituell fundierte Erkenntnisse und eine reale Erfahrung des Absoluten haben, die über das bloße Denken und Worte hinausgeht. Er will ganz real in das Absolute eingehen. Und dafür wendet er unterstützend diverse hilfreiche Meditationsmethoden an, um seine spirituellen Erkenntnisse durch reale Erfahrung zu bestätigen. (Auch wenn sich diese Erfahrung dann möglicherweise nicht in Worten ausdrücken oder vermitteln lässt.)
Wichtig zu verstehen ist, dass Erkenntnisse auf dem Weg des Jñana-Yoga durchaus fundiert und wertvoll sein können, aber dass dieser Weg der Erkenntnis eben seine Grenzen hat. Wir können mit Jñana-Yoga Gewissheit darüber erlangen, dass die spirituelle Dimension real ist und dass wir ein untrennbarer Teil davon sind. Wir gehen mit Jñana-Yoga in die richtige Richtung (wenn wir es korrekt anstellen), aber wir können letztlich keinen echten Zugang zur spirituellen Dimension erlangen. Wir müssen die Ebene des Geistes zurücklassen und uns auf die Ebene des Herzens einlassen, die ganz andere Gesetzmäßigkeiten hat.
Jñana-Yogis sind sehr intelligent, und deswegen verstehen sie letztlich, dass sie nicht nur auf der Ebene des Geistes arbeiten können. Und so nutzen sie teilweise auch Methoden wie stille Meditation, Ashtanga-Yoga, Karma-Yoga und Bhakti-Yoga usw. Ihr Fixiertsein auf Intelligenz und Wissen kann ihnen im Weg stehen, wenn sie nicht darüber hinaus gehen. In der Bhagavad Gita (7.19) heißt es, dass jemand, der nach vielen Geburten und Toden in echtem Wissen gründet, sich der Höchsten Seele vorbehaltlos ergibt, da er versteht, dass die Höchste Seele, die auch den Namen Vasudev hat, die Ursache aller Ursachen und alles ist. Und es wird zugleich auch gesagt, dass solch eine große Seele (ein Mahatma) sehr selten ist. Der Weg des Jñana-Yoga ist also sehr mühselig und langwierig und nur selten von Erfolg gekrönt.
Hingabe bedeutet in diesem Fall, den vergeblichen Versuch aufzugeben, das Absolute, das alldurchdringend und feiner als das Feinste ist, durch den eigenen Verstand in den Griff zu bekommen und zu umfangen. Wir sind ein untergeordneter und untrennbarer Teil des Höchsten, und als solcher können wir das Höchste Ganze nicht mit unseren Geisteskapazitäten unter unsere Kontrolle bekommen. Wir müssen verstehen, dass die spirituelle Dimension sich uns offenbaren oder sich vor uns verbergen und unserem Zugriff entziehen kann. Wir können die spirituelle Dimension nicht aus eigener Kraft erklimmen, insbesondere nicht durch unser Denken.
Du musst also kein Jñana-Yogi werden. Aber du kannst von der Weisheit authentischer Jñana-Yogis profitieren und diese als Ausgangspunkt nehmen. Sie haben die Essenz der Weisheitsschriften in Bezug auf unser spirituelles Wesen für dich bereits destilliert. Du brauchst diesen langwierigen und beschwerlichen Weg, der letztlich ein Umweg ist, nicht selbst gehen. Beginne gleich mit der Essenz des Yoga – Bhakti-Yoga.